Sonntag, 12. Januar 2014

Redensart = art of speaking?

„Na, Ratz“, frage ich, als ich ihn vor einer halben Kartoffel sitzend an seiner linken Hinterpfote lutschen sehe, „leckst du dir alle zehn Finger nach der Kartoffel?“


 „Nach der Kartoffel ist ungenau formuliert und von zehn Fingern kann ebenfalls keine Rede sein“, grummelt Ratz. „Ich lecke an fünf Zehen einer meiner Hinterpfoten, und zwar nach einer halben Kartoffel, denn die andere Hälfte liegt, wie du wohl siehst, noch da.“ „Ach, stimmt“, erinnere ich mich, „bei dir muss man ja immer sehr genau auf seine Worte achten.“ „Bei dir doch auch“, bemerkt Rabatz schnippisch. „Grr“, sage ich, schneide dazu eine Grimasse, die deutlich machen soll, dass ich von seiner Kritik an meiner Person sehr wohl berührt, aber nicht verletzt bin, und wende mich dann an beide Tiere: „Nicht wissend, dass Ratz die Hälfte der Kartoffel bereits verzehrt hat, sondern ihn lediglich vor einem Stück Kartoffel und mit einer Pfote in seinem Mäulchen bzw. Schnäuzchen vorfindend, nahm ich an, er habe vor, Kartoffel zu essen und großen Appetit darauf, so dass ich mich der Redensart ‚sich nach etwas alle zehn Finger ablecken‘ bediente, die eben genau das bedeutet, nämlich Lust auf Gaumenfreude. Entschuldigt bitte, ich habe die Situation falsch eingeschätzt.“ „Diese Redensarten immer!“, schimpft Ratz. „Typisch Menschen! Sagen das eine und meinen das andere!“ „Redensarten sind schön“, widerspreche ich ihm. „Man versteht sie, wenn man sich ihres Ursprunges besinnt und berücksichtigt, dass sie im Laufe der Jahrhunderte Bedeutungswandel erfahren haben.“ „Aha. Und was bedeutete dieses Finger-Ablecken ursprünglich mal?“, erkundigt sich Ratz. „Genau das, was du gemacht hast“, antworte ich. „Sich nach dem Essen – im Mittelalter benutzten die Menschen weder Messer noch Gabeln, lediglich für Suppen, so sie die nicht aus ihren Schüsseln schlürften, Löffel – die Finger sauber lecken.“ „Löffel, Löffel, Löffel…“, sinniert Rabatz, „gibt es damit nicht auch so eine Redensart?“ „Du meinst ‚den Löffel abgeben‘?“, errate ich. „Ja, ja, genau! Was bedeutet das?“, will er wissen. „Schau selbst nach!“, fordere ich ihn auf und zeige auf das fünfbändige Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten im Regal. „Ich habe euch doch nicht ohne Grund zu Leseratten erzogen.“

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