Mittwoch, 28. Mai 2014

Essen bei Licht

"Was zum Teufel tut sie nun schon wieder?", höre ich die Ratten tuscheln, die auf dem Tisch hinter mir hocken und ihre Köpfe zusammenstecken. "Ich putze das Fenster", gebe ich Auskunft. "Mit dem Staubsauger?", entsetzen sie sich im Chor. "Ja, klar", sage ich und drehe mich zu ihnen um. "Womit denn sonst?" Fünf Ratten schauen mich vollkommen entgeistert an. Mir scheint, ich muss etwas erklären. Ich hole also tief Luft und führe aus: "Ich sauge die verstaubten Spinnweben ab. So macht man das. Habe ich kürzlich in Heiko Wernings Wedding-Geschichte "Fenster putzen" gelesen. Man saugt seine Fenster und schon stellt man fest, so dunkel, wie Menschen gerne behaupten, ist es im Erdgeschoss überhaupt nicht." "Und wozu das Ganze? Was haben wir davon?", erkundigt sich Moritz. "Wir können aus dem Fenster schauen und sehen den Ausschnitt Welt davor farbig", antworte ich. "Den Typen von schräg gegenüber jenseits der Straße, der den ganzen Tag nichts anderes zu tun hat, als aus seinem Fenster heraus durch Fenster diesseits der Straße in hiesige Wohnungen hinein zu glotzen, will ich überhaupt nicht in Farbe sehen", nörgelt Ratz. "Und ich den Regen nicht", fügt Rabatz grummelnd hinzu. Auf Moritz' berechtigten Einwand, dass Wasser ohnehin farblos sei, geht irgendwie niemand ein. "Lasst uns was Schönes machen", schlägt Max indessen vor. "Was genau?", hake ich nach. "Käse essen!", piepst er. "Guter Vorschlag!", lobt ihn Dachs. "Blöder Vorschlag", widerspreche ich. "???", fragen mich wortlos fünf Rattenaugenpaare. Daher präzisiere ich: "Es ist kein Käse da." "Etwas anderes als Käse essen", korrigiert Max sich sogleich und ich ergänze: "Bei lichtdurchlässigem Fenster." Ratz empfiehlt: "Lass doch die Jalousie herunter, dann kann der von da drüben uns beim Essen nicht zugucken." "Guter Vorschlag!", findet Max und will von mir wissen: "Was haben wir denn?" "1 Kanten Vollkornbrot, 1 Rest Zaziki, 1/2 Dutzend Tomaten, 1 Zipfel Gurke, 2 Kekse", zähle ich auf. "Hurra!", ertönt ein fünfstimmiges Freudengeschrei und während ich noch damit beschäftigt bin, die Jalousie herunterzulassen, stürmen die Ratten in die Küche. Nun ja, der Ratten-Rentner Ratz ist nicht mehr gar so stürmisch.

Heiko Werning: Im wilden Wedding. Zwischen Ghetto und Gentrifi-
zierung. Geschichten, Edition Tiamat, 1. Auflage, Berlin 2014, S. 21.

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