Dienstag, 30. Dezember 2014

Briefporto

"Was liest du?", ruft Dachs mir vom offenen Käfig aus zu, wartet allerdings meine Antwort nicht ab, sondern nutzt die 3 Meter Entfernung zwischen sich und mir als Anlauf, springt dann genau zwischen mich und den Laptop auf den Schreibtisch und informiert sich selbst. Still wird's. Dachs liest und liest, wird zunehmend nachdenklicher, als er den Artikel* zu Ende gelesen hat, dreht er sich zu mir um und fragt: "Weiß Ratz das schon?" "Genau diesen Artikel* kennt Ratz vermutlich nicht, aber ich nehme an, er weiß das", antworte ich und ermuntere ihn, Ratz im Altenteil doch einfach zu besuchen und sich mit ihm darüber zu unterhalten. (Mein Hintergedanke: Ratz soll nicht vereinsamen.) Dachs springt ins Altenteil unter die umgekippte Pappschachtel, wo Ratz hockt, und ich höre es von dort wispern. Satzfetzen wie "...Bundesrepublik kein souveräner Staat...keine handlungsfähige Regierung...Gesetze des Kaiserreiches noch gültig...also auch das Briefporto von vor 140 Jahren...3 bis 4 Cent pro Brief" dringen an meine Ohren. Dann robbt Ratz unter der Schachtel hervor und beginnt, empört zu predigen: "Also dass die BRD mit ihrer Gründung zwar rechtsfähig wurde, nicht jedoch die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches angetreten hat, vielmehr - wenngleich auf kleinerem Territorium - lediglich von den westlichen Siegermächten besetzt war und auch nach der späteren Hinzufügung der DDR und dann dem Abzug aller Alliierten die Souveränität formal-juristisch nicht 100%ig korrekt hergestellt worden ist, stimmt wohl, aber sich deswegen auf Gesetze von 1875 zu berufen, sobald es persönlich materiell nutzt...Also ich halte das für verkehrt. Entweder nach allen Gesetzen bzw. Verordnungen von damals leben oder gar keinen...De facto existiert die BRD..." Er will sich so richtig in Rage reden, aber ich stoppe ihn, indem ich ihm ins Wort falle: "Du hast vollkommen recht, Ratz. Und irgendwie hoffe ich ja, dass das nicht funktioniert. Wir bekommen schließlich auch unser Brot nicht zu Preisen von anno dazumal und erfreulicherweise berechnet mein Arbeitgeber mein Gehalt nicht auf Basis reichsüblicher Löhne." Dachs nickt nachdenklich, hebt dann belehrend eines seiner Vorderpfötchen und merkt an: "Den damaligen Militarismus stelle ich mir unter unserer heutigen Verteidigungsministerin** lieber nicht vor." Erheiterung und Zustimmung seitens aller am Gespräch Beteiligten. Ich hole Ratz aus seiner zum Altenteil umfunktionierten Kiste und nehme ihn auf den Schoß, damit er den Artikel*, über den wir gerade sprechen, überhaupt erst einmal lesen kann. Er überfliegt ihn rasch. "Willst du ausprobieren, ob das funktioniert? Briefe einfach so adressieren, wie das im Kaiserreich üblich war, und nach damaliger Gebührenordnung frankieren?", erkundigt er sich. "Ja", sage ich, "Neujahrsgrüße werde ich in derart antiquiert beschrifteten Briefumschlägen, auf die ich jeweils 4-Cent-Marken klebe, verschicken. Wie muss man das doch gleich machen?" Während ich nachlese, murmele ich vor mich hin: "Die Postleitzahl in eckige Klammern, neben das Adressfeld auf englisch den Vermerk >>nicht innerstaatlich BRD<< und unter die Briefmarken das Versanddatum und meine Unterschrift. Man kann auch noch die damalige Provinz hinzufügen." Ratz schüttelt missbilligend den Kopf. "Für den Fall, dass die Briefe tatsächlich ankommen", warnt er mich, "musst du aber die Adressaten vorab informieren. Die fürchten sonst, du hast das politische Lager gewechselt und willst das Deutsche Kaiserreich zurück." "Mache ich", versichere ich. "Was machst du?", melden sich Rabatz, Max und Moritz aus der anderen Ecke des Zimmers, wo sie bis eben geschlafen haben. "Ach nö", stöhnt Ratz, "jetzt müssen wir das alles noch einmal von vorne erzählen!" Dachs indes legt ihm besänftigend eines seiner Vorderpfötchen auf den Kopf und verspricht: "Lass nur! Ich übernehme das." Er läuft zu seinen Brüdern und seinem Vater und erklärt schnell und verständlich, allerdings nicht ohne mimisch und gestisch seine persönliche Meinung einfließen zu lassen. Er runzelt nämlich abwechselnd die Stirn, schlägt sich mit den Pfötchen dagegen und verdreht die Augen. Seine Zuhörer lauschen schweigend. Erst als er endet, piepst Moritz: "Wie rechnet man eigentlich damalige Pfennige in heutige Euro-Cents um?" "Das geht wahrscheinlich eigentlich gar nicht", vermutet Max. Ich fühle zehn Rattenaugen von fünf Ratten auf mich gerichtet. Oje! Um die Beantwortung dieser Frage sehr weit ins nächste Jahr zu schieben, tue ich weiter nichts, als in die Küche zu gehen und geräuschvoll Käse auszuwickeln. Es dauert nicht lange und fünf Ratten wuseln mir um die Füße. Sie schauen mich nach wie vor unverwandt an, aber es geht um keinen Umrechnungsfaktor mehr.

http://www.noz.de/lokales/meppen/artikel/477494/briefe-fur-vier-cent-in-meppen-zugestellt#gallery&0&0&477494

** Ursula von der Leyen

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