Montag, 30. Juni 2014

Vegane Massagen

"Na, ihr fünf", sage ich, als ich nach Hause komme und meinen Rucksack neben das Fahrrad stelle, "ihr müsst noch etwas Geduld haben, bis ich wie gewohnt euren Käfig öffne, ich gehe vorher noch einmal schnell nach draußen." Ich schnappe meinen Photoapparat, entschwinde, bin gefühlte 3 1/2 Minuten später zurück und drücke die Käfigtüren auf. "Wo warst du?", fragt Dachs. "Vor der Haustür", antworte ich. "Was hast du da gemacht?", erkundigt sich Max. "Photographiert", gebe ich Auskunft. "Und was?", will Moritz nun genau wissen. "Werbung", presse ich zwischen meinen Lippen hervor. Bei dem Wort Werbung wird Ratz hellhörig. "Werbung?", piepst er vor Aufregung, statt wie sonst zu grummeln. "Wofür denn?" Ich drücke am Photoapparat auf Bildwiedergabe und halte Ratz das Display vor die Augen, die er daraufhin entnervt verdreht. "Gentrifizierung", seufzt er. "Hä? Gentrifizierung? Dafür werben die jetzt schon so ganz direkt?", schnauft Rabatz, während er Ratz beiseite schiebt, damit er auch etwas sehen kann. Dachs, Max und Moritz - ebenfalls neugierig geworden - drängeln mit. Sobald sich alle so positioniert haben, dass jeder lesen kann, konstatiert Max nüchtern: "Vegane Massagen für 45,- €. Kein Wort von Gentrifizierung."


"Das ist dasselbe", erklärt Ratz. Rabatz schüttelt daraufhin den Kopf und die drei Jugendlichen schauen ihren altersweisen Artgenossen sehr fragend an. Also führt der weiter aus: "Die Verdrängung einkommensschwacher Bewohner geht mit der Schaffung von Angeboten, die diese weder gebrauchen noch bezahlen können, einher." Mit einem lang gedehnten "Ach sooo", drücken Rabatz, Dachs, Max und Moritz aus, dass sie verstanden haben, und kurz darauf mault Moritz: "Das finde ich aber blöd." "Denkst du vielleicht, wir nicht?!", jammern Dachs und Max wie aus einem Mäulchen bzw. Schnäuzchen. "Na ja", versuche ich zu trösten. "Der Wedding hat so seine ganz eigenen Regeln. Das dauert schon noch etwas, bis wir hier weg müssen. Ich erinnere mich an das Restaurant Feinkost und Fremdsprachen. Es hat hier niemanden, sondern wurde verdrängt, und zwar an den Mauerpark." Zu unser aller Beruhigung öffne ich das Fenster, so dass die Auseinandersetzung zweier Kinder nichtdeutscher Herkunftssprachen, die genau darunter ausgetragen wird, an unsere Ohren dringt: "...ey, deine Mutta klaut bei Kik, du vollgeile Arschfotze..." "Na, die lassen sich bestimmt vegan massieren!", prustet Dachs los und kann kaum mehr an sich halten. Wir anderen stimmen in sein Gelächter ein.

Mittwoch, 25. Juni 2014

Gummibärchen? Nie mehr!

"Na, ihr fünf", sage ich, als ich nach Hause komme, meinen Rucksack neben das Fahrrad stelle und ihren Käfig öffne. "Hast du uns etwas mitgebracht?", erschallt ihr fünfstimmiger Ruf. "Ja", gebe ich Auskunft. "Was denn?", fragen sie. "Gurke, Zwiebeln, Tomaten, Heidelbeeren, Joghurt", zähle ich auf. "Mehr nicht?", empört sich Dachs, "Nichts zum Naschen?", konkretisiert Max und Moritz wird mit "Keine Gummibärchen?" noch genauer. "Nee", erkläre ich, "habe ich euch doch kürzlich erst erläutert. Nie mehr Gummibärchen! Ich kaufe keine mehr. Ich laufe beim Einkaufen an den Süßigkeiten-Regalen vorbei, als wären sie leer." "Das war ernst gemeint?!", entfährt es Ratz und Rabatz wie aus einem Mäulchen bzw. Schnäuzchen. "Ja, selbstverständlich", erwidere ich so gelassen, wie mir das irgend gelingt. Die drei Jugendlichen schauen mich erschrocken, die beiden Erwachsenen erstaunt an. Kollektives Schweigen. Um die Stille nicht quälend werden zu lassen, beende ich sie, indem ich daran erinnere, dass Gummibärchen aus Gelatine, Sirup, Zucker, Dextrose, Frucht- und Fruchtsaftkonzentraten, Säuerungsmitteln, Aromen und Bienenwachs bestehen und da Gelatine aus dem Bindegewebe von Tierknochen bzw. Schweineschwarten hergestellt wird, letztlich nichts anderes als fruchtig aromatisierte, gesüßte Schlachtabfälle sind. "Und was ist mit vegetarischen Gummibärchen?", mault Moritz. "Bäh!", nimmt Max mir das Antworten ab. "Hast du schon vergessen, wie eklig die geschmeckt haben?" "Äh, nee, eigentlich nicht, war ja nur so eine Frage", stammelt Moritz. "Und außerdem", kommt nun Ratz in Fahrt, "sind die vegetarischen auch ungesund, viel zu viel Zucker!" "Genau", bestätigt Dachs mit wichtigtuerischer Miene. "Aber was ist mit unserer Sucht?", gibt Moritz nicht locker. "Die besiegen wir", versichert ihm Vater Rabatz und ich bin froh, diesen Satz nicht selbst aussprechen zu müssen. Stattdessen erwähne ich Käse. "Käse?" Fünf Rattennäschen beginnen zu vibrieren. "Käse hattest du eben nicht genannt, nur Gurke, Zwiebeln, Tomaten, Heidelbeeren und Joghurt", kritisiert mich der aufmerksame Dachs. Und während wir uns zu sechst - 5 Ratten, 1 Mensch - in die Küche begeben, weise ich darauf hin, dass der heutige Hinzukauf Gurke, Zwiebeln, Tomaten, Heidelbeeren und Joghurt umfasst, Käse und Brot indes noch vorrätig sind.

Sonntag, 22. Juni 2014

1 hockende Ratte + 1 hockender Mensch = 2 Hocker

Ich klicke mich durch die einschlägigen Rattenforen und finde bestätigt, was ich zwar nicht wissen will, aber doch längst weiß: Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Ratte, die eines natürlichen Todes stirbt, liegt bei 2 1/2 bis 3 Jahren. Ich drehe mich zu Ratz um, der in der geöffneten Käfigtür hockt und zu mir schaut. 


Und wie ich ihn da so hocken sehe, kann ich nicht anders, als zu ihm zu gehen und mich vor ihn zu hocken. "Du bist 2 1/2", seufze ich. Entgegen sonstiger Gewohnheit erwidert er nichts, jedenfalls nicht mit Worten. Sein Blick bittet: "Streichle mich!" Klar doch! Mache ich.

Samstag, 7. Juni 2014

Belle-Et-Triste gefunden

"Na, ihr fünf", frage ich, als ich nach Hause komme, meinen Rucksack neben das Fahrrad stelle und ihren Käfig öffne, "wollt ihr wissen, was ich heute gefunden habe?" "Ja", piepst ein fünfstimmiger Chor und steckt neugierig die Köpfchen heraus. Dachs springt mit einem kräftigen Satz auf den Boden, marschiert schnurstracks auf meinen Rucksack zu und beginnt, ihn intensiv zu beschnuppern. "Nee, du", feixe ich, "im Rucksack ist es nicht. Was ich heute gefunden habe, lässt sich nicht einstecken und mitnehmen, jedenfalls nicht so direkt." Die auf mich gerichteten Rattenblicke werden noch neugieriger. "Nun sag schon", quängelt Moritz. Ich lasse die Tiere noch einen Moment ungeduldig zappeln. "Meine Buchhandlung", rücke ich dann mit der Sprache heraus. Sogleich werden aus ihren neugierigen Blicken irritierte. Nach einer Runde allgemeinen Schweigens räuspert sich Rabatz, dann konstatiert Ratz: "Aha. Du wirst jetzt also Buchhändlerin." "Um Himmels Willen!", entfährt es mir. "Nein! Keine Bücher verkaufen! Kaufen!" "Aber das machst du doch schon immer", merkt Rabatz an, während er vom Käfig aus auf mein Bett und von dort zu seinem Lieblingsplatz zwischen die Brecht-Bände ins Regal darüber springt. "Dazu musstest du nicht plötzlich deine Buchhandlung finden." "Musste ich nicht", gebe ich ihm recht, "aber ich tat es, und zwar unbeabsichtigt, gewissermaßen fast nebenbei... Zuerst bemerkte ich am U-Bahnhof Seestraße ein fabelhaftes Plakat für eine Buchhandlung namens Belle-Et-Triste, dann fuhr ich einen kleinen Umweg, der mich zu eben dieser Buchhandlung und in sie hinein führte..." "...und fortan kaufst du noch mehr Bücher als bisher", fällt mir Ratz stöhnend ins Wort. "Wäre das schlimm?", erkundige ich mich erstaunt, füge ihm widersprechend jedoch gleich hinzu: "Sei beruhigt. Ich werde nicht mehr Bücher kaufen als bisher, die, die ich kaufe, aber mit mehr Freude. Es ist eine Buchhandlung, wie ich dachte, dass es sie überhaupt nicht mehr gibt. Man geht hinein, sieht außer Büchern erst einmal nichts, das Licht ließe sich als funzlig beschreiben, ist aber in Wahrheit lediglich nicht aufdringlich, zunächst kein Mensch in Sicht, irgendwann hört man hinter einem Bücherstoß leise etwas rascheln: Oh, ein Buchhändler! Ob man sich umsehen dürfe? Ja, natürlich..." "Ach, weißt du", unterbricht mich nun Max, "eigentlich wäre es ja auch ganz schön, wenn du irgendwo unterwegs - z.B. in einem Lebensmittelgeschäft - Käse gefunden hättest." Leicht verärgert über so wenig Begeisterung für meine Schwärmerei knurre ich vor mich hin: "Muss auch nicht jeden Tag Käse geben. Wir haben Nüsse." Als wolle er um Entschuldigung bitten, umkreist Max meine Füße und kitzelt sie mit den Schnurrhaaren, während die anderen schon auf dem Weg in die Küche sind.

Montag, 2. Juni 2014

Unter falscher Flagge

"Na", fragt mich der ängstliche Moritz, der offenbar das Mutig-Sein übt, denn er ist aus dem Käfig, den ich geöffnet habe, zu mir ans geöffnete Fenster und den Weg über die Tischplatte hinter mir genommen habend auf meine Schulter gesprungen, "was ist mit dir heute wieder los?" "Was soll mit mir los sein?", entgegne ich. "Es soll gar nichts", erwidert er, "aber deinen Morgenkaffee hast du getrunken, der Rechner ist hochgefahren... Warum sitzt du nicht am Schreibtisch?" "Weil ich vorher lüften will und beim Öffnen des Fensters auf der Straße etwas entdeckt habe, was meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt", führe ich aus. "Was denn?", erkundigt er sich. "Na guck doch selbst", fordere ich ihn auf. "Was siehst du?" "Sehr viel verschiedenes", sagt er, "und da wir in dieselbe Richtung schauen..." - er dreht sich kurz zu mir, um sich zu vergewissern - "sehen wir wohl beide dasselbe." "Im Großen und Ganzen ja", gebe ich ihm recht, "aber Wahrnehmung ist von Wesen zu Wesen verschieden, individuell und selektiv. Was fällt dir spontan als erstes auf, wenn du auf die Straße schaust?" "Die gestreiften Mini-Flügel links und rechts an dem blauen Auto da drüben", teilt er mit. "Hä?" Ich stutze, wenngleich nur einen sehr kurzen Moment. "Moritz", rufe ich sodann begeistert aus, "wir sind wesensverwandt! Du siehst Flügel, wo mit gelb-rot-schwarzem Stoff überzogene Rückspiegel sind!"


"Wie phantasielos!", schmollt er. "Meinetwegen. Sind das eben Rückspiegel. Aber warum gestreift?" "Die deutsche Fahne verkehrt herum", grummelt Ratz aus dem Hintergrund. "Jawohl, verkehrt herum gestreift", wiederholt Dachs, der neben ihm hockt, gelehrig. Max und Rabatz, die sich nun ebenfalls für die Streifen am Rückspiegel des auf der Straße parkenden Autos zu interessieren beginnen, eilen herbei und springen auf das Fensterbrett. "Was für Streifen? Ich will die auch sehen", fordert Max. "Ich auch", verlangt Rabatz. "Fußballweltmeisterschaft", knurrt Ratz vom Käfig aus. "Alle, die wollen, dass Deutschland gewinnt, bringen an den abenteuerlichsten Stellen die Farben der deutschen Fahne an." "An den abenteuerlichsten Stellen?", bohrt Max nach. "Ja", antworte ich an Stelle von Ratz. "Ich habe sogar Frauen mit gelb-rot-schwarz angemalten Fingernägeln gesehen." "Zurück zum Thema", quängelt Moritz von meiner Schulter herab. "Warum verkehrt herum?" "Diese Frage ist genau der Grund dafür, dass ich hier am Fenster stehe und die mit verkehrt herum gestreiftem Stoff überzogenen Rückspiegel an dem Auto dort anstarre", murmele ich vor mich hin. "Vielleicht meinen Leute, die Streifen verkehrt herum anbringen, gar nicht das Deutschland, für das die National-Elf spielt?", überlegt Max. "Sehr gut!", lobt ihn Ratz. Alle Augen (außer den seinigen) sind nun auf ihn gerichtet, er verdreht die eigenen genervt und erklärt "Gelb-rot-schwarz war die Fahne des Hambacher Festes." "Ah ja", erinnert sich Dachs, "das hast du mir doch vor kurzem erst erklärt: Nationale Einheit, Pressefreiheit, Mitbestimmung wollte das Bürgertum. Die Herrscher der deutschen Kleinstaaten, Preußens und Österreichs indes waren logischerweise gegen die Aufhebung der Kleinstaaterei und verboten diese Fahne. Aber die Menschen waren schließlich nicht blöd, vertauschten den gelben und den schwarzen Streifen, die umgedrehte Fahne wurde dann notgedrungen akzeptiert, später auch zu der der Weimarer Republik, der BRD sowie der DDR und ist im heutigen Deutschland noch immer die Staatsflagge." Ich bin von der Belesenheit beeindruckt, wenngleich die Ausführungen nichts zur Klärung der Frage beitragen, warum deutsche Fußballfans die Fahne des Hambacher Festes als Ausdruck ihrer Leidenschaft verwenden. Max errät wohl meine Gedanken. "Vielleicht geht es ja eigentlich überhaupt nicht um Fußball", vermutet er. "Die Leute nehmen Fußball nur zum Anlass, um darauf hinzuweisen, dass die Ziele von vor knapp 200 Jahren noch immer nicht erreicht sind." Ratz nickt anerkennend mit dem Kopf und ich konstatiere: "Max und Moritz, ich muss schon lobend erwähnen, ihr steht eurem Bruder Dachs in Sachen Bildung in nichts nach. Moritz stellt wichtige Fragen, Max richtige Vermutungen an und Dachs sein Wissen zur Verfügung. Gutes Team!" Lärmschützend schließe ich das Fenster - genug gelüftet - begebe mich mit Moritz, der nach wie vor auf meiner Schulter sitzt, endlich an den Schreibtisch, tippe Hambacher Fest in die Suchleiste und was erblicke ich?! "Nun seht euch das an!", entfährt es mir entsetzt. Augenblicklich kommen von allen Seiten Ratten zwischen mich und den Laptop gesprungen und schauen auf den Bildschirm:

http://www.google.de/imgres?imgurl=http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Hambacher_Fest_1832.jpg&imgrefurl=http://de.wikipedia.org/wiki/Hambacher_Fest&h=432&w=576&tbnid=E1HnPXj50YNcFM:&zoom=1&tbnh=97&tbnw=129&usg=__4IGqtoJEZnyTQIJGw67t77ymb6I=&docid=bOL6Z8XKkurApM&sa=X&ei=qnOMU5GMIon8ywPBrYKYCA&ved=0CF0Q9QEwBQ&dur=143

"Wikipedia. Auf der teilkolorierten Federzeichnung ist die richtige gelb-rot-schwarze Fahne zu sehen, auf den Gedenkbriefmarken am Ende des Artikels die falsche schwarz-rot-gelbe", stellt Rabatz nüchtern fest. "Und was stimmt nun?", piepst Moritz missmutig.