Sonntag, 19. Juni 2016

Wenn du nicht zur Ratte findest, findet sie zu dir?

Donnerstagabend kurz vor Tagesschau

Ich öffne die Käfigtür, damit die Ratten spazieren gehen können. Das tun sie. Allerdings nicht kurz. Sie verschwinden langanhaltend hinter Schränken und Regalen, von wo aus ich es gelegentlich rascheln, knuspern, knistern, poltern höre, zeigen sich nur hin und wieder und jedes Mal woanders.

Hinz hinterm Schrank
Kunz hinterm Regal














Knut hinterm Wörterbuch

Donnerstagabend kurz vor Mitternacht

Knut springt zurück in den Käfig. Von den beiden anderen fehlt jede Spur. Ich bin müde, lege mich ins Bett und rufe von dort aus Knut zu: „Gute Nacht!“ „Gute Nacht“, antwortet er. Alsbald breitet sich Stille in unserer Wohnung aus.

Freitagmorgen

Ich bin als erste wach. Knut schläft im Käfig, Hinz und Kunz, die beiden weißen, auf dem Käfig. Ich stupse Kunz an sein Näschen, er schreckt hoch, springt in meinen Arm, wovon auch Hinz erwacht und wohin auch immer hüpft. Jedenfalls setze ich nur Kunz zu Knut und schließe den Käfig, damit sie in ihm bleiben, während ich Hinz suche. Ich suche ihn tatsächlich, finde ihn jedoch nicht. Irgendwann muss ich zur Arbeit. Bevor ich aus der Wohnung gehe, stelle ich alles Essbare so, dass Hinz nicht hingelangen kann, denn, so denke ich, wenn er außerhalb des Käfigs nichts Essbares findet, wird er irgendwann zurückkehren.

Freitagabend

Als ich von der Arbeit komme, ist Hinz nirgends zu sehen, Knut und Kunz kratzen aufgeregt am Gitter. Früher oder später muss Hinz sich zeigen. Es scheint später zu werden. Ich lasse Knut und Kunz aus dem Käfig und erteile ihnen den Auftrag, Hinz zu suchen. Sie laufen von dannen, kommen aber nicht mit Hinz zurück, sondern bleiben ebenfalls verschwunden.

Nacht von Freitag zu Samstag

Ich wache mehrmals davon auf, dass irgendwo etwas raschelt, etwas knistert, etwas knuspert, etwas poltert, schlafe jedoch immer schnell wieder ein. Müdigkeit macht's möglich.

Samstagmorgen

Keine Ratte in Sicht. Ich verlasse grußlos die Wohnung. Wen sollte ich auch grüßen?

Samstagnachmittag

Als ich von der Arbeit komme, sitzt Knut mitten im Zimmer und sieht mich aus schwarzen Kulleraugen liebevoll an. „Hallo Knut“, sage ich freudig. Er winkt mir zu, ich nehme ihn hoch und auf den Arm, streichle ihn, setze ihn aber mit der Bitte, seine beiden Kumpel zu suchen, bald wieder auf den Boden. Er läuft los. Dem Gefiepe, das kurz darauf unterm Bett einsetzt, entnehme ich, dass er dort auf mindestens einen seiner Artgenossen gestoßen ist, dann kehrt Ruhe ein, aber keine Ratte zu mir oder in den Käfig zurück. Macht nichts, beschließe ich. Irgendwann werden die Tiere Hunger kriegen und den Käfig aufsuchen, denn schließlich ist er der einzige Ort, an dem Futter in Ratten-Reichweite steht, denke ich und widme mich dem Haushalt. Ich höre es mal hier und mal dort hinter Schränken und Regalen rascheln, knuspern, knistern, poltern und auch munkeln – Ratten lieben es halt im Dunkeln.

Samstagabend

Als ich Gemüsereste in den Ökomüll werfe, sehe ich die Bescherung: Der Käfig ist keineswegs der einzige Ort, an dem Futter in Ratten-Reichweite steht! Am Küchenabfall haben die Lieben sich gütlich getan und dabei Spuren hinterlassen! Und ich wundere mich, dass die ihren Futternapf nicht vermissen! Grrr! Die Kleckerfritzen selbst sind allerdings nirgends zu sehen. Leicht verdrossen fege ich die herumgeworfenen Schalen von diversem Obst und Gemüse zusammen, bringe allen Müll aus der Wohnung und bin sicher, nun werden sich Knut, Hinz und Kunz recht bald am Futternapf im Käfig versammeln.

Nacht von Samstag zu Sonntag

Nichts.

Sonntagmorgen

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Rascheln.

Sonntagvormittag

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Knuspern.

Sonntagmittag

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Knistern.

Sonntagnachmittag

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Poltern.

Sonntagabend

Knut springt in den Käfig und begibt sich schnurstracks an den Futternapf. Ich schöpfe hinsichtlich der beiden anderen neue Hoffnung.

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